Die Pre-Wrath-Entrückungslehre im Prüfstand

Zuletzt aktualisiert: 25. Dezember 2025Eschatologie

Die Vor-Zorn-Entrückungs-Sicht (Pre‑Wrath) geprüft

1. Einleitung

Unter den modernen evangelikalen Positionen zur Entrückung ist die Vor‑Zorn‑Entrückungs‑Lehre (pre‑wrath rapture view) – hauptsächlich verbunden mit Marvin Rosenthal und Robert Van Kampen – eine der jüngeren und komplexeren. Sie ist eine Variante des Midtribulationismus, jedoch mit eigener Terminologie und einer besonderen Aufteilung der siebzigsten Jahrwoche Daniels.

Dieser Artikel wird (1) die Kernthesen der Vor‑Zorn‑Sicht zusammenfassen, (2) ihre zentralen exegetischen Stützpfeiler untersuchen und (3) aus der Schrift zeigen, dass der Zorn Gottes bereits mit den Siegelgerichten beginnt, nicht erst mit den späteren Posaunen‑ oder Schalengerichten. Dabei gehen wir auf den entscheidenden Unterschied ein, den Vertreter der Vor‑Zorn‑Sicht zwischen „Satans Zorn“ und „Gottes Zorn“ machen – und warum diese Unterscheidung ihr Schema nicht trägt.


2. Kernaussagen der Vor‑Zorn‑Entrückungs‑Sicht

Auch wenn sich die einzelnen Vertreter in Details unterscheiden, bejaht die Vor‑Zorn‑Lehre im Allgemeinen folgende Struktur der siebzigsten Jahrwoche Daniels (Daniel 9,27):

  1. Erste Hälfte (Jahre 1–3½): „Anfang der Wehen“

    • Eingeleitet durch den Bund des Antichristen mit Israel.
    • Identifiziert mit den ersten vier Siegeln aus Offenbarung 6.
    • Gedeutet als eine Zeit des „Zorns der Menschen“, nicht des göttlichen Zorns.
    • Nicht „die Trübsal“ im technischen, prophetischen Sinn.
  2. Mitte: Gräuel der Verwüstung (Matthäus 24,15; Daniel 9,27; 2. Thessalonicher 2,3–4)

    • Der Antichrist offenbart seinen wahren Charakter, entweiht den Tempel und beginnt die Verfolgung Israels.
  3. Drittes Viertel (etwa Jahre 3½–5): Die „Große Trübsal“

    • Beginnt mit dem Gräuel der Verwüstung zur Wochenmitte.
    • Identifiziert mit dem fünften Siegel (Märtyrer) und einem Teil des sechsten Siegels (kosmische Erschütterungen).
    • Definiert als Zorn Satans und Verfolgung durch den Antichristen, nicht als Zorn Gottes.
    • Gemäß Matthäus 24,22 „verkürzt“, sodass sie weniger als volle 3½ Jahre dauert.
  4. Vor‑Zorn‑Entrückung: irgendwann nach dem sechsten Siegel, aber vor dem siebten

    • Christus erscheint; die Gemeinde wird zwischen dem sechsten und siebten Siegel entrückt.
    • Die Entrückung geschieht „vor dem Zorn“ (daher „pre‑wrath“), aber innerhalb der zweiten Hälfte der siebzigsten Woche.
  5. Letztes Viertel (etwa 1½–2 Jahre): Tag des HERRN / Zorn Gottes

    • Beginnt mit dem siebten Siegel (Offenbarung 8,1).
    • Umfasst die Posaunengerichte (Offenbarung 8–9; 11,15ff).
    • Gottes Zorn trifft eine ungläubige Welt; die Gemeinde ist nun im Himmel.
  6. Dreißigtägige Verlängerung und Schalengerichte (Daniel 12,11–12)

    • Die Schalengerichte (Offenbarung 16) werden häufig in diese Zeit nach der Woche verlegt.
    • Christus kehrt am Ende dieser Gerichte mit seinen Heiligen zur Erde zurück, um den Antichristen zu vernichten und das Millennium (das 1000‑jährige Reich) einzuleiten.

In diesem Schema werden die „Entrückung der Gemeinde“ und die „Zweite Wiederkunft“ nicht völlig gleichgesetzt wie im strengen Posttribulationismus; vielmehr wird die Entrückung spät in der zweiten Hälfte angesetzt, jedoch vor dem klimaktischen Tag‑des‑HERRN‑Zorn, der mit dem siebten Siegel beginnt.

Der theologische Hauptantrieb ist einfach: Die Gemeinde ist nicht zum Zorn bestimmt (1. Thessalonicher 1,10; 5,9), daher müsse die Entrückung vor Beginn dieses Zorns stattfinden. Die Vor‑Zorn‑Lehre argumentiert, dass der Zorn Gottes nicht vor dem sechsten Siegel beginne.


3. Beginnt der Zorn Gottes wirklich erst mit dem siebten Siegel?

Die entscheidende Frage lautet: Wann sagt die Bibel, dass der Zorn Gottes in der Offenbarung einsetzt? Die Vor‑Zorn‑Sicht antwortet: „Mit dem siebten Siegel.“ Der Text der Offenbarung weist jedoch früher hin – bereits im Bereich der Siegelgerichte.

3.1. Das Lamm öffnet jedes Siegel

Offenbarung 5–6 stellt den verherrlichten Christus als den Einzigen dar, der würdig ist, die versiegelte Buchrolle zu öffnen:

„Und es kam und nahm das Buch aus der Rechten dessen, der auf dem Thron saß.“
Offenbarung 5,7

Dann:

„Und ich sah, als das Lamm eines von den sieben Siegeln öffnete…“
Offenbarung 6,1

…und dieselbe Formel leitet jedes Siegel ein (6,3.5.7.9.12; 8,1).

Die Siegel werden nicht von Satan, dem Antichristen oder blinden geschichtlichen Kräften ausgelöst. Sie werden vom Lamm selbst in direkter Ausführung des richterlichen Planes des Vaters eröffnet (vgl. Johannes 5,22). Damit sind die Siegel ebenso sehr Handlungen Gottes wie die nachfolgenden Posaunen‑ und Schalengerichte.

Die ersten sechs Siegel als „Zorn der Menschen“ oder „Zorn Satans“ zu bezeichnen und nur das siebte Siegel als „Zorn Gottes“ widerspricht dem Textfluss. Gott kann sich zwar menschlicher und satanischer Werkzeuge instrumentell bedienen, doch deren Wirken ist zweitrangig, nicht primär (vgl. Jesaja 10,5–15; Hesekiel 14,21; Römer 13,1–4).

3.2. Das sechste Siegel: „Der große Tag ihres Zorns ist gekommen“

Offenbarung 6,12–17, das sechste Siegel, ist ausschlaggebend:

„Und die Könige der Erde und die Großen… versteckten sich in den Höhlen… und sprachen zu den Bergen und zu den Felsen: Fallt auf uns und verbergt uns vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes; denn der große Tag ihres Zorns ist gekommen, und wer kann bestehen?“
Offenbarung 6,15–17

Mehrere Punkte sind zu beachten:

  1. Die Menschen selbst deuten die Ereignisse als „Zorn des Lammes“.

    • Es handelt sich um ungläubige Könige, Heerführer, Mächtige – alles andere als Christus‑Freunde. Und doch erkennen selbst sie die Ursache als göttliches Gericht, nicht als bloß natürliche oder satanische Vorgänge.
  2. Die Grammatik zeigt, dass der Zorn bereits da ist.

    • Das Verb „ist gekommen“ (ἦλθεν, ēlthen) steht im Aorist Indikativ. Johannes verwendet diese Konstruktion in der Offenbarung nicht für etwas, das erst unmittelbar bevorsteht. An anderen Stellen bezeichnet sie klar ein Eintreffen oder einen bereits erfolgten Beginn.
    • Die naheliegende Lesart ist, dass der große Tag des Zorns bereits begonnen hat und nun im sechsten Siegel seinen Höhepunkt erreicht; er steht nicht nur noch bevor.
  3. Der „große Tag ihres Zorns“ ist nicht auf einen einzigen Moment beschränkt.

    • Im prophetischen Sprachgebrauch kann ein „Tag“ (besonders der „Tag des HERRN“) eine ausgedehnte Zeit des Gerichtshandelns umfassen (vgl. Joel 2; 1. Thessalonicher 5,2–3).
    • Offenbarung 6,17 ist daher am besten als Zusammenfassung der gesamten Siegelgerichte zu verstehen – der Tag des Zorns hat mit diesen Gerichten begonnen und erreicht nun einen erschreckenden Höhepunkt.

Wenn das Lamm jedes Siegel öffnet und wenn der große Tag seines Zorns im Zusammenhang mit dem sechsten Siegel „gekommen ist“, ist es exegetisch künstlich, den Beginn des Zorns Gottes auf das siebte Siegel zu verschieben. Der biblische Text selbst verortet den göttlichen Zorn innerhalb der Siegelserie, nicht erst danach.


4. Siegel, Posaunen und Schalen: Ein einziger Strom des Zornes

Die Vor‑Zorn‑Lehre legt großen Wert darauf, die Siegel deutlich von den Posaunen‑ und Schalengerichten zu trennen: Siegel = Menschen/Satan; Posaunen/Schalen = Gott. Die Schrift hingegen stellt sie als eine einzige, sich steigernde Abfolge göttlicher Gerichte dar.

4.1. Gemeinsame Quelle: Thron und Lamm

  • Die Siegel werden vom Lamm geöffnet (Offenbarung 6).
  • Die Posaunen gehen aus der Öffnung des siebten Siegels hervor (Offenbarung 8,1–6); sie bilden kein unabhängiges, späteres Programm.
  • Die Schalen werden ausgegossen als die Vollendung des Zorns Gottes (Offenbarung 15,1).

Alle drei Serien entspringen demselben himmlischen Thronsaal (vgl. Offenbarung 4–5), werden von himmlischen Wesen angekündigt oder ausgeführt und sind durchdrungen von alttestamentlichen Tag‑des‑HERRN‑Motiven. Es gibt keinen Hinweis im Text, dass sie unterwegs von „menschlichem Zorn“ zu „göttlichem Zorn“ umschalten. Vielmehr stellen sie sich intensivierende Wellen desselben göttlichen Gerichtsprogramms dar.

4.2. Gemeinsame Phänomene und Motive

  • Kosmische Erschütterungen begleiten das sechste Siegel (Offenbarung 6,12–14), die siebte Posaune (Offenbarung 11,15–19) und die siebte Schale (Offenbarung 16,17–21).
  • Die Begriffe „Plagen“, „Zorn“ und „Gericht“ werden über den ganzen Bereich hinweg gebraucht (Offenbarung 6–16).
  • Die Siegel enthalten typische Bundesfluch‑Instrumente (Schwert, Hunger, Pest, wilde Tiere; vgl. Hesekiel 14,21), die im Alten Testament ausdrücklich als Züchtigungen Gottes und nicht Satans bezeichnet werden.

Zu behaupten, nur das letzte Viertel der Jahrwoche sei der „Tag des HERRN“ und die Siegel seien etwas kategorial anderes, widerspricht dieser integrierten, sich steigernden Struktur.


5. Die Unterscheidung zwischen Satans Zorn und Gottes Zorn

Vertreter der Vor‑Zorn‑Lehre weisen zu Recht darauf hin, dass Satan Zorn hat (vgl. Offenbarung 12,12) und dass der Antichrist die Heiligen verfolgen wird (Daniel 7,21.25; Offenbarung 13,5–7). Daraus folgern sie:

  • Die Große Trübsal (Matthäus 24,21) sei in erster Linie Satans Zorn gegen die Heiligen, vermittelt durch den Antichristen.
  • Der Tag des HERRN sei Gottes Zorn, ausgegossen über die Ungläubigen.
  • Daher könne die Gemeinde während des „Zorns Satans“ auf der Erde sein, müsse aber vor dem „Zorn Gottes“ entrückt werden.

Diese Unterscheidung ist in mehrfacher Hinsicht unzureichend.

5.1. Gleichzeitige, sich überlagernde Zorneshandlungen

Die Schrift lehrt nirgends, dass Satans Zorn und Gottes Zorn zeitlich strikt voneinander getrennt sein müssten. Im Gegenteil: Gott gebraucht häufig böse Werkzeuge, um seine Gerichte zu vollziehen, während diese selbst aus sündigen Motiven handeln (vgl. Habakuk 1–2; Jesaja 10,5–12).

In der endzeitlichen Trübsal geschieht zweierlei gleichzeitig:

  1. Satan und der Antichrist entladen ihren Hass an Gottes Volk.
  2. Gott gebraucht eben diese Verfolgungen – sowie ökologische, kosmische und militärische Katastrophen –, um die Welt zu richten und Israel zu züchtigen.

Zeiträume strikt als „nur Satans Zorn“ und andere als „nur Gottes Zorn“ zu etikettieren, ist eine künstliche Dichotomie. Die Bibel beschreibt das endzeitliche Geschehen als komplexes Zusammenspiel von göttlicher Souveränität und menschlich‑satanischem Handeln, nicht als getrennte, nicht überlappende „Zornphasen“.

5.2. Gläubige leiden ebenfalls unter göttlich gelenkten Gerichten

Selbst wenn man zugibt, dass die Verfolgung durch den Antichristen satanisch ist, muss die Vor‑Zorn‑Lehre immer noch erklären, wie Gläubige vor der Entrückung angeblich vor Gottes Gerichten bewahrt werden, wenn diese Gerichte bereits global niedergehen.

Beispiele:

  • Im vierten Siegel kommt ein Viertel der Menschheit durch Schwert, Hunger, Tod und wilde Tiere um (Offenbarung 6,8).
  • Im sechsten Siegel betreffen kosmische Erschütterungen „jeden Knecht und Freien“ (6,15).

Der Text gibt keinen Hinweis, dass Gläubige der Gemeindezeit auf Erden von diesen Auswirkungen ausgenommen wären. Um das Vor‑Zorn‑Schema zu stützen, müsste man entweder:

  • bestreiten, dass es sich um Gerichte Gottes handelt (im Widerspruch zu Offenbarung 6,16–17), oder
  • eine weltweite, übernatürliche Bewahrung der Gläubigen vor allen Begleitfolgen behaupten – etwas, das die Offenbarung nirgends verheißt.

Demgegenüber ist die Zusage Gottes an die Gemeinde nicht Bewahrung inmitten des Zorns, sondern Rettung vor dem kommenden Zorn (1. Thessalonicher 1,10; 5,9; Offenbarung 3,10).


6. Die Gemeinde und der „Zorn“: Zusagen des Neuen Testaments

Die Vor‑Zorn‑Lehre betont zu Recht Stellen wie:

„…Jesus, der uns errettet vor dem zukünftigen Zorn.“
1. Thessalonicher 1,10

„Denn Gott hat uns nicht zum Zorn bestimmt, sondern zum Erlangen des Heils durch unseren Herrn Jesus Christus.“
1. Thessalonicher 5,9

„…ich werde dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, um zu versuchen, die auf der Erde wohnen.“
Offenbarung 3,10

Da sie jedoch den Beginn des Zorns falsch datiert, verlegt sie auch die Entrückung an den falschen Punkt. Wenn der Zorn mit den Siegeln beginnt, ist eine Entrückung nach dem sechsten Siegel nicht „vor‑Zorn“ im biblischen Sinn. Sie ist im besten Fall mitten im Zorn.

Eine konsistente Lesart wäre:

  • Gläubigen ist Rettung vor dem kommenden Zorn verheißen.
  • Und dieser Zorn ist bereits in den Siegelgerichten wirksam.
  • Folglich muss die Entrückung vor Beginn der Siegelgerichte stattfinden – also bevor die Gerichtsserie der siebzigsten Woche einsetzt.

Gerade die Stellen, auf die sich die Vor‑Zorn‑Sicht zur Begründung einer späten Entrückung in der Trübsal beruft, stützen – im Zusammenhang mit Offenbarung 6 gelesen – tatsächlich eine Entrückung vor der siebzigsten Jahrwoche (vor den Siegeln, vor der Trübsal).


7. Schlussfolgerung

Die Vor‑Zorn‑Entrückungs‑Sicht verdient ernsthafte Beachtung: Sie bekennt die Autorität der Schrift, rechnet mit einer zukünftigen, buchstäblichen Trübsal und möchte die Verheißung beachten, dass die Gemeinde nicht zum Zorn Gottes bestimmt ist. Doch ihre besondere Behauptung – dass der Zorn Gottes erst nach dem sechsten Siegel beginne und die früheren Siegel „Zorn der Menschen“ oder „Zorn Satans“ seien – hält einer sorgfältigen biblischen Prüfung nicht stand.

  • Das Lamm öffnet jedes einzelne Siegel.
  • Der große Tag des Zorns Gottes „ist gekommen“ bereits beim sechsten Siegel (Offenbarung 6,17).
  • Siegel, Posaunen und Schalen bilden einen zusammenhängenden Strom göttlich initiierter Gerichte.
  • Satans Zorn und Gottes Zorn laufen gleichzeitig, nicht in sauber getrennten Epochen.

Lässt man den Text für sich selbst sprechen, wird deutlich, dass der Tag des Zornes des HERRN die gesamte Abfolge der Gerichte umfasst, beginnend mit den Siegeln. Wenn die Gemeinde tatsächlich vor „dem kommenden Zorn“ bewahrt werden soll (1. Thessalonicher 1,10; 5,9), dann muss die Entrückung nicht nur vor Posaunen‑ und Schalengerichten, sondern vor den Siegelgerichten selbst stattfinden.

In diesem Licht ist die Vor‑Zorn‑Entrückung falsch benannt. Sie liegt nicht tatsächlich vor dem Zorn, sondern nach dem Einsetzen des Zorns des Lammes. Die Prüfung der Vor‑Zorn‑Sicht führt daher nicht zu ihrer Bestätigung, sondern zu erneuter Gewissheit, dass Gott seine Gemeinde vor der gesamten siebzigsten Jahrwoche und der damit verbundenen Ausgießung seines richterlichen Zorns von der Erde wegnimmt – genau das, was eine vortribulationale Entrückung vor der siebzigsten Jahrwoche lehrt.


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